2020: Triebwagen 810 / A86

     

Im Frühjahr 2015 quietschten an der Bayernstraße die etwas eingerosteten Scharniere des Eisentors, als VAG-Mitarbeiter und Vereinsschaffner eintrafen, um den abgestellten, fast vergessen wirkenden Wagen aus dem schon ein wenig eingestaubten Tunnel zu holen.

Dornröschenschlaf beendet

Mit Muskelkraft, einem Hilfsgerätewagen und dem Triebwagen 305 wurden zunächst einige abgestellte Fahrzeuge herausgezogen, bis schließlich ein Arbeitswagen mit der Bezeichnung A86 zum Vorschein kam. Das Interessante an diesem Wagen ist, dass er heute der einzige nahezu original in Nürnberg erhaltene Wagen der Baureihen 751-780 und 801-870 mit den Prototypen 711 und 712 ist, die ab Mitte der 1920er-Jahre von der MAN mit über 100 Fahrzeugen ausgeliefert wurde. Verraten hat es uns die schemenhaft unter dem Arbeitswagenlack durchscheinende Nummer 810. Unser Museumswagen 867 gehört auch zu dieser Baureihe, wurde jedoch nach Kriegszerstörung 1950 in Belgien neu aufgebaut, ist also von jüngerer Substanz. Diese MAN-Triebwagenserie war zugleich die letzte in Nürnberg, deren Wagenkasten-Aufbau noch in Holzkonstruktion ausgeführt war.

"Pflegeheim" Werk Peter

Im Schlepptau des Gelenkwagens 305 traf der Wagen im Historischen Straßenbahndepot St. Peter ein. Sogleich wurde der Zustand von den Mitgliedern der Restaurierungs-Mannschaft unseres Vereins begutachtet. Ein Fenster, das Vandalen eingeschlagen hatten, wurde erst einmal mit Folie abgedeckt. Mit Mundschutzmasken machten wir uns ans Werk, den erschreckend wirkenden Schimmelbefall auf den Innenhölzern abzuwaschen. Darunter kamen dann doch erstaunlich gut erhaltene Oberflächen zutage, sodass wir fast den Eindruck hatten, als wäre dies der Eröffnungszug von 1938, der in den Tunnel zurückgekehrt und seither vergessen worden wäre. Nach einer vollständigen Wagenwäsche innen und außen befanden wir den Zustand für gar nicht schlecht. Sowohl der Liniendienst bis in die 1960er-Jahre als auch die Zeit als Schleppfahrzeug für den Schienentransport konnten der Robustheit eines MAN-Wagens anscheinend nichts anhaben. In den 1990er-Jahren war der Wagen zunächst in einer offenen Holzhalle im Gleisbauhof Maximilianstraße abgestellt worden, ehe er Anfang 2000 in der Unterpflasterstrecke verschwand. Über ein Jahr lang beschäftigten sich Vereinsmitglieder damit, Metallteile im Wageninnern vom Rost zu befreien, Holzoberflächen und unzählige Messingteile aufzupolieren. Gerade die Messingteile waren tiefschwarz korrodiert, sodass sie ausgebaut und maschinell gereinigt werden mussten. Mit nach wie vor sichtbaren Gebrauchsspuren seiner Gleisbaueinsätze bereicherte er im Zustand des Arbeitswagens A86 unsere Ausstellung.

Geschichtswert erkannt – Erhalt beschlossen

Eines unser Vereinsmitglieder hatte sich im Zuge der Reinigungsarbeiten des Wagens zum "Messing-Polier-Profi" entwickelt und erkannte bei Recherchen in unserem Bildarchiv den geschichtlichen Wert dieses Fahrzeugs. Auf Fotos entdeckte er an den Fahrzeugen dieser Baureihe auf lackierte Warnhinweise. Die Besonderheit dabei war, dass diese in englischer Sprache verfasst waren, ein Indiz, das uns in die Zeit nach 1945, also die der amerikanischen Besatzung in Bayern, zurückführt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es gerade dieser Wagentyp, der beim Wiederaufbau der Stadt mit dabei war. Wäre unser Wagen 810 des Sprechens mächtig, könnte er gewiss über etliches Erlebte berichten.

Weil dieses Fahrzeug keine zwanzig Jahre später aus dem Liniendienst genommen wurde und seit Anfang 1960 nur Schleppwagen war, hat sich das Wageninnere im Zustand der ausgehenden Wiederaufbaujahre bzw. der Zeit des "Wirtschaftswunders" erhalten. Dieser Umstand war für uns Grund genug, per Antrag an die Jahreshauptversammlung der Freunde der Nürnberg-Fürther Straßenbahn e.V. im März 2020 den geschichtlichen Erhalt und die behutsame Aufarbeitung dieses Zeitzeugen zu sichern, ein Vorhaben, dem unsere Mitglieder mit großer Mehrheit zustimmten.

Begutachtung und Maßnahmenplan

Schon im Folgemonat traf sich die vereinsinterne Restaurierungsgruppe, um Zustand und Erhaltenswertes zu dokumentieren. Schnell war man sich einig, konservatorisch vorzugehen, um Zeitzeugen, die sich in den Gebrauchsspuren manifestierten, zu erhalten. Nun galt es zu polieren statt zu lackieren, auszubessern statt zu erneuern, ein Grundsatz, der auch seinerzeit bei der Wiederherstellung der zerstörten Nürnberger Altstadt galt. Beschädigtes sollte wieder aufgebaut, völlig Zerstörtes aber nicht durch historisierende Kopien ersetzt werden. Bestes Beispiel für dieses Vorgehen war und ist die Sebalder Altstadt, die gerade im Osten nahezu völlig zerstört war. Basierend auf bisherigen Baulinien wurden neue Häuser im Stil der 1950er-Jahre erstellt. Wo alte Bausubstanz zu retten war, wurde sie behutsam wiederhergestellt, wie heute der Laufer Schlagturm beweist. So kam es, dass die Altstadtlinie 16, die bis 1961 auf der Strecke Viktoriastraße (heute Tauroggenstraße) – Rathenauplatz – Rathaus verkehrte, zum Leitbild für die Aufarbeitung unseres Wagens 810 wurde, zumal sich einige ältere Vereinsmitglieder noch daran erinnerte, wie sich der 16er kurz vor der Stilllegung 1961 durch die Unterführung beim Laufer Schlagturm zwängte. Als ein Vereinskollege und VAG-Mitarbeiter auch noch die originalen Lackierschablonen für die Aufschriften für das amerikanische Militär im VAG-Archiv entdeckte, stand für uns die Ära, in die der Wagen zurückversetzt werden sollte, fest. Wir zögerten ein wenig, denn auch die Elemente für den Arbeitswageneinsatz hatten ihren Reiz. Allerdings passte das nicht mehr zu unserer geschichtlichen Einordnung. Als Kompromiss erhielten wir den grünen Arbeitswagenlack, nur die Arbeitswagennummern und rot-weißen Warnbaken wurden mit passend beigemischtem Olivgrün abgedeckt, die alten Wagennummern 810 wieder originalgetreu angebracht.

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